M.A. Antonia Stausberg
Bei einem kreativen und innovativen Versuch zur Stadterneuerung hat die mexikanische Regierung 2015 mit einem Künstlerkollektiv, bekannt als die “German Crew” zusammengearbeitet, die 14 Monate lang damit verbracht haben ein 20.000 Quadratmeter großes Wandgemälde an die Fassaden von 209 Häusern im Bezirk Palmitas in Pachuca zu malen. Ziel des Projekts war es die Integration der Gemeinschaft zu fördern und das negative Image des Viertels zu ändern. Aber auch einen visuellen und sozialen Wandel herbeiführen, indem es – zumindest vorübergehend – Arbeitsplätze schafft und so auch die Kriminalität und Gewalt in der umliegenden Nachbarschaft verringert.
Spannend war dabei auch, dass die Menschen, die in diesen wild wuchernden Außenbezirken der Städte leben, in die verschönernde Umgestaltung ihres Lebensraumes, einbezogen werden sollten. Denn eines ist klar: Das Leben in diesen wild gewachsenen „Vororten“ ist eine Herausforderung. Und diese Herausforderung besteht in ganz Lateinamerika. Denn überall haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg um die ursprünglich klaren und klassisch angelegten Stadtkerne neue Stadtviertel “unkontrolliert” gebildet, also ohne vorherige Planung mit klarer Straßenführung, solide geplanter Kanalisation und ordentlicher Elektrizitätsversorgung. Dies hängt aber auch vor allem eng mit der Bevölkerungsexplosion zusammen, die Mitte des letzten Jahrhunderts in großen Teilen Lateinamerikas voll zum Durchbruch kam.
Entstanden sind so in Lateinamerika die “pueblos jovenes”, die “villas miserias”, die “favelas”, die “cinturones de miseria”, “arrabales”, “asentamientos irregulares” oder “barrios paracaidistas”. Eigen ist allen der chaotische, der ungeordnete unkontrollierte Wachstum, der wiederum ganz erstaunliche Häuser, ja Gebäudeensembles entstehen ließ.
Gerade aufgrund der Brisanz des Themas ist die Position des Künstlers Mauricio Salcedo besonders spannend und ein Grund, weshalb ich diesen hier vorstellen möchte. 1993 in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá geboren, setzt sich Mauricio in seinem künstlerischen Werk mit eben diesen Wohn- und Lebensverhältnissen in den unkontrolliert gewachsenen Vorstädten auseinander. Damit stehen die Fragen von Wohnraum und Identität unter den Aspekten von ungeplanten, ja geradezu explosiv entstandenen Bauentwürfen im Mittelpunkt. Außerdem erforscht und beobachtet Salcedo mit seinen künstlerischen Arbeitsmethoden unmittelbar seine Umgebung und bildet diese auf sehr detaillierte Weise ab. Die Lebenssituation der Menschen in seiner Heimatstadt Bogotá, die mehrheitlich auf engstem Raum zusammenleben, ist für viele in Europa lebende kaum vorstellbar. Mit seinen 2019 entstandenen Grafikarbeiten – den Aquatintaradierungen Babel 1 und Babel 2– legt der Künstler einen eindeutigen Schwerpunkt auf das so entstandene Städtebild in den Armenvierteln Bogotás.
Es zeigt die vielen an der Peripherie der Metropole von den Menschen selbst gebauten kleinen Häuser, die von weitem gesehen, wie kleine aneinandergereihte Bienenwaben oder Stalaktiten aussehen. Mauricio zeigt so in den Arbeiten seine Sicht auf die stetig wachsende Stadt mit ihrem planlosen und zügellosen Bauen, und greift dabei zurück auf die biblische Erzählung im Alten Testament vom berühmten Turmbau zu Babel und tauft sie Babel 1 und Babel 2.
Für Mauricio spiegelt das planlos ausufernde Bauen auch das Vergessen wider, das Politik und Gesellschaft in den zurückliegenden Jahrzehnten einem großen Teil der kolumbianischen Gesellschaft hat angedeihen lassen. Gleichermaßen sieht er darin aber auch einen Versuch der aktiven Selbstgestaltung und damit auch Erweiterung des eigenen Lebensraums. Die Ambivalenz zwischen diesen beiden Polen findet ihren Ausdruck in den beiden unterschiedlichen Ausführungen der Arbeiten, die es zugleich in einer dunklen wie auch einer hellen Version gibt.
Mit “Babylon” weist Mauricio nicht nur auf die schwierige soziale, wirtschaftliche und politische Situation seiner Heimat hin und kritisiert damit die Ungleichheit, die zur Entstehung und Weiterentwicklung solch urbaner Lebensräume führt, sondern stellt auch die Frage, inwiefern sich das sogenannte “Urban Living” dieser Städte dem heutigen Zeitgeist schon längst angepasst hat. Gehören die riesigen Randbezirke lateinamerikanischer Städte, die in Kolumbien, Mexiko, Peru oder auch Brasilien, die größeren Teile der urbanen Zentren ausmachen, nicht längst schon zum prägenden Städtebild des Subkontinents? Und ja: Welche maßgeblichen Veränderungen müssen verwirklicht werden, um diesem Typ eines chaotischen und exzessiven Bauens entgegenzuwirken – oder ist es dafür schon bereits zu spät?
Der Künstler erklärte dazu in einem Interview einmal: “Meine Beziehung zur selbstgebauten Architektur begann in meiner Kindheit, in dem Haus, das mein Großvater und mein Vater gemeinsam im Westen von Bogotá bauten. Das Viertel entstand – wie die meisten Viertel in Bogotá – durch den Prozess der Unterteilung eines der vielen größeren Grundstücke, die diesen Sektor ausmachten. Da es sich um Projekte handelte, die nur aus privaten Impulsen geboren wurden, also ohne klassische Stadtentwicklungspläne, führte dies in der Folge zu struktureller Unordnung, so wie wir sie heute in Bogotá beobachten können.”
Man könnte sagen, dass die Einwohner sich ihren Wohnraum einfach selbst schaffen und kreieren. Sie bauen fernab jeglicher amtlichen Zulassung und okkupieren das von der Stadt umgebende Umland, sodass dieses immer weiter wächst. Dieses Wachstum hat aber auch organische Züge, es ist gewissermaßen bedarfsgerecht. Während dieser Bau- und Erweiterungsprozess von hoher Kreativität und Eigenleistung zeugt, ist damit aber auch eine gewisse Vernachlässigung dieser Menschen seitens des Staates oder der Regierungen verbunden. Sie bleiben sich selbst überlassen und müssen in Eigenregie ihren Wohnraum definieren. Somit sind die teilweise exzessiv chaotischen Bauten stadtplanerisch nicht mehr fassbar.
Die Lebensgeschichte Mauricios und seine Kindheit in diesen peripheren Siedlungen Bogotás könnte die von vielen Menschen in Lateinamerika sein – gerade auch in Mexiko. Durch seine Grafiken und Skulpturen wird die Geschichte Lateinamerikas jedoch umso deutlicher: Das vor einem Jahrhundert noch überwiegend ländlich geprägte Lateinamerika ist heute eines der am stärksten urbanisierten Regionen der Welt. Über 80 Prozent der Bevölkerung Lateinamerikas und der Karibik leben in Metropolregionen und Städten mit mehr als 750.000 Einwohnern. Lateinamerika verfügt über einige der größten Städte und urbanen Regionen der Welt, darunter Buenos Aires, Lima, Mexiko-Stadt, Rio de Janeiro und São Paulo, mit zum Teil mehr als 10 Millionen Menschen. Diese Megastädte und ihrer Randbezirke, in denen die Einwohner in oftmals prekären Lebenssituationen wohnen – mit wenig bis kaum Elektrizität, ohne fließend Wasser und festen Straßen – sind in den zurückliegenden Jahren so enorm gewachsen, dass häufig Staat und Regierung keine Kontrolle mehr dort ausüben. Zur Wahrheit gehört leider auch, dass der Einfluss des organisierten Verbrechens und der Drogenbanden dort immer stärker wird.
Mauricio erklärte mir einmal in einem Gespräch: “Während meiner Kindheit war ich Zeuge, wie das Haus und die Nachbarschaft gebaut wurden. Da ich damals nicht verstand, was diese Art von Dynamik verursachte, begann ich, Aufzeichnungen über diese konstruktiven Prozesse zu machen, die sich nun in meinem künstlerischen Schaffen wiederfinden. Bald hatten diese Aufzeichnungen und die Erinnerungen an die Empfindungen, die der Raum hervorrief, einen starken Einfluss auf die plastischen Prozesse, denen ich mich zu nähern begann.” In seinen neuesten Arbeiten entwickelt Mauricio diese plastischen Prozesse und Formen weiter und erforscht das Verhältnis von Urbanität, Räumlichkeit und der Natur seiner Entwicklung. Aber auch die Symbolik des Hauses, die Produktion und Materialität sowie sein Ursprung beschäftigen den Künstler.
In den Räumen seines Studios in Bogotá erforscht er mit seinen Ziegelstein Modellhäusern, die aus traditionellen Materialien wie Zement, Ziegel und Beton entstanden sind, diese Thematik weiter. Aufgrund der geologischen Bedingungen in Kolumbien ist dieses Baumaterial im Überfluss vorhanden, zudem leicht zu nutzen und somit zum Baumaterial par excellence geworden.
Aber der Ziegelstein ist für Mauricio noch viel mehr: Es ist die Verbindung und damit Verwurzelung mit der Erde und dem Ursprung von Baukunst. Somit gelingt es dem Künstler, das aus der Landschaft gewonnene Material auf verschiedenste Art zu nutzen und “das Haus als den unmittelbaren rituellen Raum zu verstehen, den wir in unserem täglichen Leben bewohnen.” Das Haus als Wohn-und Lebensraum, als Schutzort, als Ort der Produktion und Verwirklichung, aber auch als Geschichte der Menschen, deren Entstehung und Entwicklung. In seinen künstlerischen Erkundungen zeigt uns Mauricio also seine Geschichte des Hauses: Ein Ort, der seitens des Staates zwar vernachlässigt wird, der aber als Reaktion darauf mit Kreativität und in Eigenregie neu gestaltet wird.
Mauricio Salcedo hat einen Abschluss von der Universität Jorge Tadeo Lozano. Der Künstler lebt und arbeitet in Bogotá. Er wird von der Galería La Cometa vertreten, die Räumlichkeiten in Bogotá und Medellin hat, sowie von der Kölner Galerie Boisserée.
Folgen Sie dem Künstler über Instagram; @islas_____mauricio und @islas___gloria
Titelbild: Cerros Orientales (Bogotá), Mauerwerk und Montage, 2019 ©Mauricio Salcedo