VON MAGDALENA LÖSCH
Venedig
Es ist später Morgen. Das Wasser schimmert rötlich am Anlegesteg des Lidos und taucht Venedig in einen Filter aus dunstfarbenem Licht. Sfumato ala Giorgione. Das brummende Vaporetto hält schwungvoll an der Promenade am Markusplatz und hinterlässt eine nach Diesel stinkende Wolke. Kinder springen auf den alten, geometrisch gemusterten Fliesen des Gehwegs und bunt gekleidete Touristen mit Selfiesticks wimmeln um auffliegende Tauben, während ein schwimmendes Hochhaus sich langsam am Canale Grande vorbeischiebt. Im Hintergrund des Treibens stehen unbeeindruckt der Dogenpalast und Markusdom, die Procuratien und der Campanile: grün-weiße Steinfronten, spitzgiebelige Fenster, bunte Mosaike, schnörkeliger Stuck. 600 Jahre alter Marmor, 600 Jahre Kulturgeschichte. Was für ein surreal, zeitloser Raum.
Wer noch nie in Venedig war, der hält die Postkartenidylle der Stadt wohlmöglich für Kitsch. Wer in Venedig war, der weiß um das Gefühl, bei jedem Gebäude, jedem Platz, jeder Brücke, die Handykamera zücken zu müssen, als brauche es einen Beweis ihrer Existenz. Nach einem Tag gibt man das Fotografieren auf. Denn jeder Blickwinkel ist ein Motiv. Diese Stadt ist in all ihren verwinkelten Straßen, unzähligen Sackgassen und Kanälen ein erbautes Erbe menschlicher Kultur.
Biennale
Am Eingang des Giardini wehen Fahnen im Wind: „May you live in interesting times”. Das Motto der diesjährigen Biennale, das hier wie ein gutgemeinter Wunsch des Kurators Ralph Gugoff daherkommt, ist nach britischen Politikern und Diplomaten, die die Redewendung nach Europa brachten, in Wahrheit ein alter “chinesischer Fluch”. Durch die Blume gesagt wünscht man seinem Gegenüber mit dem Sprichwort Unsicherheit, Gefahr und Chaos. Trump, Brexit, Klima, Migration. Allemal interesting, allemal unheilvoll.
Dänischer Pavillon. Eine Kamera fährt durch Bethlehem, vorbei an steinernen Häusern, alten Mauern und schattigen Gassen. Plötzlich gerät das Bild ins Wanken. Eine Flut aus schwarzer Flüssigkeit überspült die Kamera und vergräbt schließlich die Stadt unter sich. Cut. Zwei Frauen haben die Katastrophe überlebt und wohnen in atombunkerartigen, unterirdischen Katakomben. Hier arbeiten sie auf, wie die Welt da draußen gewesen ist, an die sie sich selbst nicht mehr erinnern. Die Künstlerin Larissa Lansour lässt in ihrer Videoinstalltion In Vitro unsere Erde dystopisch zu Grunde gehen und hinterfragt die Bedingungen ihrer Neuerschaffung. Keine Arche Noah, kein Ölzweig gibt hier die Hoffnung, dass es jemals wieder so sein kann, wie es heute ist.
Ein paar Meter weiter ist der französische Pavillon überflutet mit türkisfarbenem Wasser, in dem allerlei bunte und wundersame Dinge schwimmen: ein altes Handy, Plastiktüten, ein Salatkopf, Fragmente von Rettungswesten, ein Gummihandschuh. Man muss in die Knie gehen, um zu entdecken, was sich dort im Kunstharz alles verbirgt. So schön, so ästhetisch und fotogen arrangiert die Künstlerin Laure Prouvost in ihrer Installation Deep Sea Blue Surrounding You die Verschmutzung der Ozeane und das Massengrab im Mittelmeer, dass man erstaunt von diesem Widerspruch zurück
in die Sonne tritt.
Ein großartiger Chaoshaufen aus Kabelwirrwarr, Technikapparaturen, Plastikabdeckungen und Flugzeugsitzen erwartet die Besucher:innen dann im polnischen Pavillon. Roman Stanczak hat hier unter dem Titel Flight einen Privatjet der oberen Zehntausend einmal von innen nach außen gestülpt. Hier ist natürlich nichts mehr in der Lage zu fliegen, und bei genauerer Betrachtung ist es ein Rätsel, wie diese Ansammlung an potenziellen Fehlerquellen mal fähig war, sich verlässlich in der Luft zu halten. Schnell wird klar: die gleiche Frage stellt sich genaugenommen auch bei einer Kaffeemaschine oder Türklingel, deren Technik – verglichen mit Kaffeefilter und Türknauf – so komplex ist, dass wir nicht mehr in der Lage sind, die inneren Abläufe zu verstehen, noch funktionsuntüchtige Kaffeemaschinen oder Türklingel zu reparieren. Das ungleiche Verhältnis zwischen dem technischen Fortschritt und dem Wissen des Einzelnen, lässt einen verunsichert zurück. Es hilft nur der Glaube daran, dass unsere technologisierte Umwelt weiterhin funktioniert und ihre undurchschaubare Logik behält.
Ganz so sicher ist man sich aber nicht mehr, wenn man vor der amoklaufenden Blutmaschine des chinesischen Künstlerduos Sun Yuan und Peng Yu steht. Außer Kontrolle schwenkt sie quiteschend die eiserne Schaufel nach links, klatscht zu Boden, spritzt dickflüssiges Kunstblut an die gläsernen Wände ihres Glaskäfigs, schiebt eine Lache schmatzend zu sich, schreckt schrill wieder auf. Es ist einfach zu viel Blut, als dass der Roboter den Tatort in den Griff bekommen könnte. Passend dazu
verrät der Titel: Cant help myself.
Helles Licht, weißer Schnee und endloses Eis scheint ein paar Meter weiter aus dem kanadischen Pavillon. Zacharias Kunuk und das Isuma-Kollektiv zeigen hier eine nachgestellte Dokumentation, deren wahre Geschichte Kunuk als kleines Kind selbst durchlebte. One day in the Life of Noah Piugattuk zeigt den Tag, an dem kanadische Regierungsbeamte 1961 ein Inuit Dorf auf der Baffininsel vor Grönland davon zu überzeugen versuchen, ihre Heimat im ewigen Eis zu verlassen und an einen weit entfernten Ort auf dem Festland zu ziehen. Die Überzeugungsarbeit entlarvt sich am Ende als staatlich angeordnete Umsiedlung. Und selbst der Begriff ist ein Euphemismus. Hier geht es um Vertreibung, um gestohlene Heimat und Identität. Zacharias Kunuk zeigt eine Welt, die verschwunden ist. Heute findet man auf der Baffininsel keine Inuit mehr und keine Eiskappen, sondern Öl- und Gasplattformen, die in der Tiefe nach dem Gold unseres Industriezeitalters suchen.
Dessen Endprodukt weht um den zentralen Pavillon und großen Platz des Giardini: dicker, weißer Qualm versprüht hier den Charme einer Berliner Straßenkreuzung. Er liegt zum einen vielleicht daran, dass Venedig durch die vielen Kreuzfahrtschiffe inzwischen denselben Grad an Luftverschmutzung hat wie Mailand, zum anderen aber auch an der Installation Thinking Head der italienischen Künstlerin Lara Favaretto. Habemus Biennale, Habemus Umweltschaden.

Begeistert waren Jury und Biennalebesucher:innen gleichermaßen von der Performance – oder besser gesagt Oper – Sun & Sea des litauischen Trios Rugile Barzdziukaite, Vaiva Grainyte und Lina Lapelyte. Wie von einer Baywatch-Aussichtsplattform schaut man von der Galerie der alten Industriehalle hinab auf eine Strandszenerie: heller Sand, Liegestühle, Burgen bauende Kinder, weiße, sich sonnende Menschen. Die sich dort räkelnden Personen singen dabei schönste Arien in italienischer Dolce-Vita-Manier, die allerdings nicht von Tosca handeln, sondern von Burnout, Depressionen und Workaholismus, von der Klimakrise, Erderwärmung und Umweltzerstörung. Kurz um: hier werden die Spätfolgen des Kapitalismus besungen. Im litauischen Pavillon geschieht das so Instagram tauglich, so charmant und leicht, dass man sich wohlig identifiziert und schmunzelnd reflektiert. Was Litauen hier zeigt, ist ein ironischer Moment für gestresste Großstädter, die wie Rettungsschwimmer auf Hilfe bedürftige Menschen schauen, um dann am Ende zu erkennen, dass sie nur ihr Spiegelbild sehen. Ein bisschen Baywatch, ein bisschen Hallo Robbie, ein bisschen Systemkritik.

Ein paar Meter weiter auf dem großen Biennaleschauplatz Arsenale, dem ehemaligen Marinegelände der Republik Venedig. Hier steht aufgebockt, still und verrostet der gesunkene Fischkutter unter dem Titel Barca Nostra. Ein ausgesägtes Quadrat gibt den Blick durch den Schiffsbug frei und lädt ein, wie durch einen rostigen Bilderrahmen auf das türkisfarbene Mittelmeer zu schauen. Kein Werk sorgte für mehr Aufsehen, für mehr Empörung und Kritik als diese Installation von Christoph Büchel. In der Nacht vom 19. April 2015 kippte das für 15 Personen ausgerichtete Fischerboot vor Lampedusa, kenterte, schwamm für eine Weile Kiel oben, eh es voll Wasser lief und sank. An Bord waren ungefähr 1100 Menschen auf der Flucht. „Ungefähr“, das sagte die italienische Marine später, als sie etwa 500 der vielen Leichen im Schiffsbug fand – eingepfercht, übereinander liegend, dichter gedrängt als auf einem Sklavenschiff. Barca Nostra – Boot unser; das ist kein plakatives Kunstwerk, sondern ein Mahnmal und Stoßgebet an uns reiche Industrienationen, die überquellen vor finanziellen Ressourcen, vor Chancen, vor europäischen Werten und vor allem vor Zynismus. Das Boot steht stumm am Pier, um hindurchzusehen, um in der maritimen Kulisse übersehen zu werden, um sich über seine Eindeutigkeit zu empören und nicht über seine Geschichte. Zusammengefasst: um es zu ignorieren. Genau wie das Sterben im Mittelmeer.
May you live in interesting times. Zurück am Ausgang wird deutlich: diese Biennale materialisiert die geballte, diffuse Angst unserer globalen und vernetzten Gesellschaft auf komplexe Weise. Hier wird sinnhaft klar, was sich weder politisch noch verbal eindeutig erklären, noch ordnen lässt: unsere Art zu leben und zu wirtschaften, unsere Ignoranz unserer Umwelt, einander und uns selbst gegenüber, unser kollektiver Wettbewerb um den Wohlstand weniger, all das hängt zusammen wie ein bedrohlich fragiles Mobile, dessen Schattenspiel die diesjährige Biennale zeigt.
May you live in interesting times. Der alte chinesische Fluch entpuppt sich bei genauerer Recherche als sehr frühe, politische Fakenews. Diesen Fluch hat es in China nie gegeben. Erfunden von der englischen Kolonialmacht sollte er Angst und Schrecken vor dem Fremden Kontinent verbreiten. Wem kann man noch trauen, wenn sich selbst der Biennalekurator Fakenews bedient?
Erst die schattigen Gassen, die surrenden Motorbote und alten Steinbauten versprechen die
verlorene Gelassenheit zurück. Es ist Nachmittag. In der Innenstadt sprudelt Wasser gluckernd aus den vielen Gullis des Markusplatzes. Das Meer drückt auf die Lagune. Wenige hundert Meter vor der Stadt baut die italienische Regierung mit Hochdruck ein großes Sperrwerk in die offene See. Es wird Venedig vollkommen abriegeln. Finanziert wird das Milliardenprojekt auch von der UNESCO, die verzweifelt darum ringt, das Welterbe für Generationen nach uns zu bewahren. Und da wird klar: Diese Stadt ist so fragil und schutzbedürftig, in diesem Moment wirkt sie wie die Kulisse einer großen Biennaleperformance.
Titelbild: Alex da Corte: Rubber Pencil Devil. Photo: Andrea Avezzù, Courtesy of La Biennale di Venezia.