Der Meister der Stillleben feiert am 2. November seinen 319. Geburtstag. Zeit, sein Leben einmal genauer zu betrachten.
VON MAGDALENA LÖSCH
„Monsieur Chardin hat soeben zwei Bilder mit Früchten beendet, von 18 Zoll Breite und etwa 15 Zoll Höhe. Das eine dieser Gemälde zeigt einen flachen Korb, gefüllt mit Pfirsichen, und rote und grüne Muskattrauben. Ein Kristallkühler voll Wasser und ein umgedrehtes Glas in diesem Kühler zeigen Lichteffekte, die das Auge täuschen. Beide Gemälde, die von größter Wahrheit sind, befinden sich zurzeit im Kabinett von M. l’Abbé Trublet; sein Geschmack für die Künste und seine Höflichkeit werden ihn zweifellos dazu bewegen, sie von den Kunstliebhabern betrachten zu lassen.“
Diese Rezension in einer Pariser Tageszeitung aus dem Jahr 1759 ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich. In einem Artikel dazu aufzurufen, bei einer mit Namen genannten Privatperson zu klingeln, um sich ihre im Wohnzimmer hängenden Bilder ansehen zu dürfen, verstößt heute wohl gegen jeglichen Datenschutz. Die größere Ungewöhnlichkeit betrifft aber das Bild selbst, denn was den Kritiker so zum Schwärmen bringt, ist kein Gemälde mit pathosschwangerer Heldengeschichte und auch kein neues Königsportrait, sondern lediglich ein paar Pfirsiche, Trauben und ein umgestülptes Glas im Wasserglas. Jean Siméon Chardin (1699 – 1779) schaffte es, mit der Abbildung einfachster Alltagsgegenstände zum feierten Maler unter den Stillleben-Künstlern zu avancieren und löste mit dem obigen Bild eine Welle der Begeisterung aus.
Als Chardin 1759 die Früchte samt Wasserglas auf die Leinwand tupfte, tobte der Siebenjährige Krieg. Frankreich hatte Teile von Preußen und dem Königreich Hannover besetzt, England attackierte Frankreich samt seinen Kolonien in der Karibik und Kanada, Habsburg-Österreich griff Russland an, und die Zaren-Nation ließ das preußische Frankfurt/Oder besetzen. Kurzum: Mitteleuropa versank im Chaos, während Chardin in der Rue Princess in Paris geduldig die Lichtreflexion auf den Gläsern und den knackig kühlen Trauben und die pelzige Haut der Pfirsiche malte.
Chardins Kollegen waren an der Stilllebenmalerei wenig interessiert, zu wenig lukrativ erschien ihnen die Gattung. Die reiche Kundschaft lebte in Saus und Braus und auch am Königshof pflegte man keinerlei Bescheidenheit. Festgehalten wurde die frivole Lebensweise der Bourgeoisie von zeitgenössischen Malern, wie Antoine Watteau, in den „Fêtes Galantes“. Diese Gemälde waren – im Gegensatz zu Stillleben – bei der Oberschicht heiß begehrt, denn sie zeigten die „galanten“ und in der Regel auch sehr freizügigen Feste der Schickeria. König Ludwig XV. bedienten 16.000 Angestellte und Hofadelige in Versailles und mit seinem Tod hinterließ er ein Haushaltsloch in der französischen Staatskasse von etwa 1,5 Milliarden Livre (ca. 22 Mrd. Euro). Kurz gesagt: im Frankreich Chardins lebte man nach der Devise „mehr ist mehr“. Unter diesem Gesichtspunkt bekommt sein Stillleben geradezu einen revolutionären Hauch, denn was kann man einer eitlen Konsum- und Vergnügungsgesellschaft Besseres entgegenhalten als das gnadenlos Gewöhnliche? In gewisser Weise könnte man Chardin als den Biedermann des 18. Jahrhunderts bezeichnen, und er hätte dies bestimmt als Kompliment verstanden.
In seinem Bild stehen die Gegenstände nicht isoliert, sondern im Zusammenhang zueinander. Wer genau hinschaut, kann die Farbe der Pfirsiche im Glanz auf den hellen Trauben wiederfinden und das tiefe Blau der dunklen Trauben im Licht des Wasserkühlers. Die Früchte und das Glas, ihre Farben und Formen, stehen nicht in Konkurrenz zueinander, keines der Dinge ist für die Bildkomposition wichtiger als das andere, sondern alle sind gleichwertig. Man kann sagen, Chardins bescheidenes Stillleben nimmt im Kleinen die Ideale der Französischen Revolution vorweg: Liberté, Égalité, Fraternité.
Der Beginn seiner Karriere verlief holprig. Geboren 1699 als Sohn eines Tischlers, konnte der Vater seinem begabten Sprössling nur die Sparversion der großen Künstlerausbildung ermöglichen. Chardin reiste daher nicht, wie damals üblich, nach Italien, um die alten Meister der römischen Antike zu studieren, sondern ging beim Hofmaler Cazes in die Lehre. Dieser ließ ihn seine misslungenen Gipsabgüsse, alte Skizzen und Kupferstiche abzeichnen, um sich die Kosten eines Models zu sparen. Chardin erkannte, dass er ohne die prestigeträchtige Ausbildung an der königlichen Kunstakademie wenig Chancen auf die große Karriere hatte. Nach einem Abschluss an der Akademie winkten exklusive Aufträge für den Königshof und das Privileg, im Louvre ausstellen zu dürfen. Nach damaliger Auffassung war die Gattung „Stillleben“ in der Hierarchie der Gattungen ganz zu unters, nach der Sakralen Malerei und den Historienbildern, dem Portrait, der Landschaftsmalerei und dem Genrebild. Doch Chardin bewarb sich 1728, strotzend vor Selbstbewusstsein, an der königlichen Akademie mit einer Auswahl an Bildern – ausschließlich Stillleben -, die er zum größten Teil bei seinen flämischen Vorbildern abgekupfert hatte. Er wurde noch am selben Tag zugelassen als Maler von „Tieren, von Küchenschalen und von verschiedenen Gemüseschalen“.
Nun rückte zwar der künstlerische Durchbruch näher, die akademische Karriere war für ihn als Stilllebenmaler aber ausgeschlossen. Zum Professor oder Hochschuldirektor konnten nur die höher gestellten Gattungsmaler berufen werden. Chardin ließ sich nicht beirren und malte die folgenden Jahrzehnte mit zunehmendem Erfolg alles, was die Küche seiner Gattin so hergab: Obst, Gemüse, Töpfe, Teller und versuchte sich zwischenzeitlich auch in der Genremalerei, der Darstellung von häuslichen Szenen.
Allem Vorurteil zum Trotz führten ihn die Stillleben zum Erfolg. Der abwechslungssüchtige Adel fand großes Gefallen an der ungewohnten Einfachheit und vergötterte Chardin als Feinmeister der Kolorierung. Der Philosoph Denis Diderot schrieb Lobeshymnen gleiche Rezensionen und sogar der König selbst belohnte Chardin mit einer Wohnung im Louvre. Chardin stieg zum Schatzmeister der königlichen Kunstakademie auf, die schon seit Jahren rote Zahlen schrieb. Als erste Maßnahme strich er den Historienmalern die Anatomieklasse, da er das Malen von teuren Modellen – vielleicht als späte Retourkutsche – für gänzlich überflüssig hielt. Als Chardin 1759 das Stillleben mit Pfirsichen, Trauben und Glaskühler malte, war er bereits 60 Jahre alt und hatte es mit wohl kalkulierter Bescheidenheit unter dem Motto ‚ungewöhnlich gewöhnlich‘ bis ganz nach oben geschafft.
Im Gegensatz zu den flämischen Stillleben aus dem 17. Jahrhundert zeigt Chardins Gemälde kein teures Porzellangeschirr, keine opulent gedeckte Tafel, die an die Vergänglichkeit erinnern soll. Chardin war wohl kein Mann der großen Gesten, denn er zeigt lediglich die Beziehung des Menschen zum Einfachen. Auch täuscht er keine Zufälligkeit in der Komposition vor. Das Bild wirkt arrangiert wie ein Werbeplakat und ist es auch. Alle Dinge wurden gründlich und überlegt ausgewählt, aufgestellt, beleuchtet, begutachtet und in geduldig langer Arbeit gemalt. Bei Stillleben mit toten Tieren vergammelte dem Meister schon mal das ein oder andere Rebhuhn im Atelier und als überzeugter Perfektionist verärgerte er seine Auftraggeber mit Wartezeiten von bis zu zwei Jahren – eine ungeheuer lange Zeit.
Da das Stillleben in der Gattungshierarchie den niedrigsten Rang einnahm, war es gesellschaftlich auch mit den niedrigsten Erwartungen verbunden und gab Chardin den Freiraum, sich mit neuen Themen auseinander zu setzen und in gewisser Weise das Stillleben neu zu erfinden. Das Bild lässt den Betrachter allein. Die Leere, Harmonie und Ruhe kann man spüren aber nicht intellektuell verstehen. Die Objekte haben keine weitere Bedeutung als ihre Farbe, Struktur und Form. Damit sprengte Jean Siméon Chardin den Rahmen des zu der Zeit im Gemälde vorstellbaren und legte den Grundstein für die Kunst der Moderne.
Bild: Jean Siméon Chardin, Stillleben mit Früchten und Wasserglas, 1759.