VON EVA DALVAI
600 säuberlich aufgehängte Zeichnungen an einer langen Wand. Egalitär angeordnet. Keine Namen. Ein symbolischer Einheitspreis. Was wie eine Kampfansage an einen Kunstmarkt klingt, in dem Kunst die Anlage und Künstler:innen die Aktien sind, ist die Kernidee der Ausstellung Anonyme Zeichner, die seit Mitte Juli in der Galerie im Körnerpark in Neukölln zu sehen ist.

Die Schau ist Teil des gleichnamigen Kollektivprojekts, welches 2006 von der Zeichnerin und Collage-Künstlerin Anke Becker in Berlin ins Leben gerufen wurde. Den Wanderausstellungen, die mittelweile in über 26 europäischen Städten zu sehen waren, geht ein internationaler Teilnahmeaufruf voraus. Einzige Einschränkung: nur eine Arbeit auf Papier im Format von maximal einem DIN A3-Blatt. Herkunft der Künstler:innen? Ausbildung? Motiv? Egal. Die Teilnahme ist kostenlos und die Auswahl wird anonym getroffen. Von Anke Becker, wohlgemerkt.
Bei über 2000 Einsendungen aus 38 Ländern erklärt sich die Notwendigkeit einer subjektiven Auswahl von selbst. Subjektiv ist auch die Hängung entlang der Wand. Laut Becker werden die Arrangements ihrerseits zu ‚Konzeptkunst‘. Durch das überlegte Wechselspiel zwischen den Arbeiten, sollen die Zeichnungen über die werkimmanenten Aspekte hinaus in ein dialogisches Spannungsverhältnis zueinander treten. Der Ausdruck ‚Kuratierung‘ wird in der Projektbeschreibung vermieden. Doch er drängt sich unweigerlich auf. Ob es für das Format unbedingt den Stempel der künstlerischen Installation braucht, (um sich noch dezidierter vom traditionellen Galerie- und Ausstellungswesen abzugrenzen?) sei dahingestellt. So oder so, es funktioniert.

Durch die fein ausbalancierte und erfrischend unaufgeregte Hängung, tut sich vor meinen Augen die ganze Bandbreite des Mediums Zeichnung auf. Vom gewählten Papier, hin zum verwendeten Zeichenmaterial, dem Einsatz von Linien und Flächen und dem letztendlichen Motiv, die Vielfalt ist beeindruckend. Im Zusammenspiel mit der Anonymität und dem Einheitspreis wird man gleichzeitig dazu aufgefordert, tradierte Bewertungskonzepte zu überdenken. Wie betrachtet man Arbeiten deren Herkunft und Urheber:in unbekannt sind? Werke, die sowohl von einem Kleinkind als auch von affirmierten Künstler:innen stammen könnten? Wie ich so entlang der Wand schlendere, merke ich, was diese kluge Ausstellung mit mir macht. Ich nehme mir Zeit, die Zeichnungen einzeln zu betrachten und miteinander zu vergleichen. Sie auf technische, motivische oder aber konzeptuelle Fragen hin zu befragen. Die Qualität der Arbeiten schwankt, doch es geht um nichts anderes als die Zeichnungen selbst.
Name und Herkunft der Künstler:innen werden erst nach erfolgtem Kauf preisgegeben. Sie werden an die nunmehr leere Stelle an die Wand geschrieben. Was vorher eine anonyme Zeichnung war, ist jetzt ein anonymer Name, denn das Werk wird sofort abgenommen. Alle Arbeiten kosten 200 Euro. In etwa so viel wie zwei Festivaltickets, zwei Paar Marken-Sneaker und nur ein Bruchteil des letzten iPhone Modells. Im Vergleich zu den gängigen Kunstmarktpreisen Peanuts. Von dem Verkaufserlös gehen 120 Euro an den oder die Urheber:in, der Rest fließt an das Projekt zurück, das sich damit finanziert.

Erst jüngst erlebte die auf dem Markt für Gegenwartskunst ansonsten stiefmütterlich behandelte Zeichnung eine Blüte – dank schnell expandierender Messe-Formate, wie die vor zwei Jahren gegründete Paper Positions. Doch Becker lässt dem Medium, das auch in ihrem eigenen künstlerischen Schaffen zentral ist, abseits der Hypes mit Anonyme Zeichner seit nunmehr zwölf Jahren Wertschätzung zukommen.
Natürlich hat sich rumgesprochen, dass hier Zeichnungen von auf dem Markt gehandelten Künstler:innen preiswert angeboten werden. Das Raten darüber, welche Zeichnung von wem stammen könnte, geht schon während der Eröffnung los. Händler:innen und Sammler:innen warten ungeduldig das Ende der Ansprachen ab, um sich auf Werke zu stürzen, die sie identifiziert zu haben glauben.
Doch gerade der Preis zieht nicht nur die gewieften Szenekenner:innen an. Nein, in Kombination mit der unprätentiösen Präsentation werden Hemmschwellen gesenkt und Kunst einem ganz anderen Publikum zugänglich gemacht. In einem Kunstmarkt, der für Normalverbraucher im besten Fall hermetisch und im schlimmsten elitär und snobistisch wirkt, liegt der große Wert von Anonyme Zeichner in seinem demokratischen Anspruch, der für Künstler:innen und Besucher:innen gleichermaßen wirksam wird.
“Anonyme Zeichner“, Galerie im Körnerpark, bis zum 19. September.
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Titelbild: ©Anonyme Zeichner